Auf Tour mit den Straßenwächtern – eine andere Weihnachtsgeschichte
Besser könnte das Wetter nicht sein. Es ist wenige Grad Celsius über Null, anfangs schneit es und dann geht der Schnee in kontinuierlichen Regen über. Um die Arbeit der Straßenwächter wirklich kennenzulernen, könnte das Wetter nicht besser sein.
An den harten Bedingungen muss man die Situation obdachloser Menschen fühlen – und die Bedeutung des Engagements der rund 200 ehrenamtlich wirkenden Mitglieder des Vereins Straßenwächter e. V.
Eine Reportage von Stephan Anemüller.
Für sie ist es keine kleine Herausforderung, für sie ist es das harte Leben am Rande der Gesellschaft mitten in Köln.
Wir haben uns am 4. Dezember 2023 Tina (41) und Benjamin (36) angeschlossen und sind mit ihnen auf die Bollerwagen-Tour in der Kölner City gegangen. Seit zwei bzw. zweieinhalb Jahren ziehen die beiden Ehrenamtler der Straßenwächter nun bereits etwa zwei Mal im Monat abends durch Köln. Die Straßenwächter laufen jeden Abend, 365 Tage im Jahr, und das, weil viele ihren Anteil übernehmen. (Im Bild oben ist Tina in der Mitte, Benjamin rechts und Marion links zu sehen.)
Unsere Tour beginnt um 17.30 Uhr am Zülpicher Platz, führt entlang der Ringe, über die Ehrenstraße, Breite Straße, Hohe Straße, Schildergasse und endet am Neumarkt. Routiniert ziehen die beiden abwechselnd den Bollerwagen, auf dem sich ein großer Thermobehälter mit rund 150 Portionen warmen Essens befinden. Heute gibt es Nudeln mit Rindfleisch, Pilzen und Gemüse. Hinzu kommen gespendeter Kuchen sowie Kaffee und Tee als warme Getränke.
Die beiden werden mit ihrem Bollerwagen schnell erkannt. Wie aus dem Nichts kommen die ersten Klienten, so werden die Hilfsbedürftigen respektvoll genannt, auf die Gruppe zu. Sehr routiniert öffnet Tina die Box, der Duft warmen Essens strömt heraus. Benjamin entnimmt bereits ein paar Plastikschalen aus einer grauen Box und weist Marion in die Abläufe ein – er hält eine Plastikschale hin, Tina füllt eine kräftige Kelle Speise ein und zusammen mit Gabel und Löffel bieten sie das Mahl einem der Wartenden an. Die Straßenwächter fragen nicht nach dem Warum, sie belehren nicht – sie helfen einfach. Die Gespräche werden durch einen sehr freundlichen, empathischen Ton bestimmt.
Schnell geht es weiter in die Balduinstraße. Hier hat der Verein seine Basis „ZoHus by Straßenwächtern“. Täglich von 16 Uhr bis 20 Uhr gibt es hier in einem ehemaligen Ladenlokal warme Getränke, Gesprächsmöglichkeiten, ein Fernseher hängt an der Wand. Vor allem werden hier auch Kleidung, Hygieneartikel, Isomatten, Schlafsäcke, sogar Zelte ausgegeben. Die Materialien stammen aus Spenden von Privatpersonen und Unternehmen.Definiert wurden vier Einsatzbereiche: Betreuung der Basisstation „ZoHus“, Durchführung der Versorgungs-Touren, Zubereitung des Essens in einer Küche und Transportfahrten.
Hinzu kommen Springer, die flexibel Lücken füllen. Tina gehört dem dreiköpfigen Koordinierungsteam für das Ehrenamt an. Sie suchen ständig weitere Mitstreiter, denn der Bedarf ist groß.
Interessenten können sich über die Internetseite www.strassenwaechter.de melden. „Man muss sich überlegen, wie oft man aktiv sein will, denn das ehrenamtliche Engagement muss mit den beruflichen Verpflichtungen, der Familie und allem weiteren vereinbar sein“, sagt Tina. „Aber zwei Mal im Monat sollte es schon sein, damit der Verein planen kann.“
Vor der Basisstation ist die Thermobox bereits wieder geöffnet und der Hunger des Tages wird für ein paar Menschen gestillt. Einer fragt, ob es zu Weihnachten auch wieder eine Geschenke-Aktion geben werde. „Ja“, antwortet Benjamin, „Die Geschenke laufen auf und es wird wieder für alle ein Päckchen dabei sein. Im vergangenen Jahr haben uns die Kölnerinnen und Kölner drei Bollerwagen gut gefüllt gespendet und wir konnten allen Klienten eine kleine Gabe überreichen.“ In den Päckchen befinden sich vor allem Hygieneartikel wie zum Beispiel Zahnbürsten, die die Menschen auf der Straße dringend benötigen. Was wünsche ich mir eigentlich zu Weihnachten? Zahnbürsten nicht, die sind einfach da.So bitter unterschiedlich können Lebensrealitäten sein.
Die Spendenbereitschaft der Menschen ist wirklich großartig. Mir fällt auf, dass viele der Klienten keine zerschlissene Kleidung tragen, sondern warme, ordentliche Sachen. Die benötigen sie auch, denn bei niedrigen Temperaturen und Feuchtigkeit ist die Gesundheit mehr und mehr in Gefahr – und sie können dann nicht im warmen Bett oder auf dem Sofa liegen oder gar ein Erkältungsbad nehmen. Die Realität des Lebens obdachloser Menschen ist viel härter, als wir uns das meist vorstellen können.
Aber es gibt auch in diesem Punkt Unterschiede. Auf der Tour begegnen Marion und mir ganz unterschiedliche Menschen. Der Akademiker ist genauso dabei wie solche mit einfacher beruflicher Ausbildung. Sie eint, dass sie durch irgendetwas aus der Bahn geworfen wurden. Und nun benötigen sie Hilfe der Gemeinschaft, in die die meisten früher auch einiges eingebracht haben – damals, im Leben vor der Straße, als sie sich dieses gar nicht vorstellen konnten.
Bepackt mit Hoffnungen sind auch Menschen aus osteuropäischen Nachbarländern zu uns gekommen. Viele Arbeiten haben sie gemacht, waren sich häufig für nichts zu schade und fallen dennoch schnell aus dem Karussell des wirtschaftlichen Auf- und Abs. Häufig sitzen sie verschämt am Straßenrand, mit einem Pappschild vor sich und abgewendetem Blick. So wie das Paar auf den Ringen – sie sitzt gehüllt in eine Decke, er hat sich in den benachbarten Eingang eines Geschäftes zurückgezogen.
Benjamin geht mitfühlend auf sie zu. Ob sie etwas zu Essen mögen, fragt er. Erst jetzt kommt der Herr aus dem Geschäftseingang auf uns zu, sie schaut dankend nach oben. Zwei Schalen sind schnell gefüllt und es gibt noch einen warmen Tee hinzu. Wie mag es sich anfühlen, über Stunden auf dem kalten Boden zu sitzen? Unter der Decke vermutlich noch ein Kissen über den Steinplatten?
Sehr nett kommen zwei ältere Damen auf uns zu. Eine steckt einen größeren Schein in die Spendenbox, die fest auf der grauen Kiste mit Utensilien, Getränken und Kuchen befestigt ist. Beide bedanken sich herzlich bei Tina und Benjamin für das Engagement der Straßenwächter. Ich habe den Eindruck, dass sie den Bollerwagen schon mehrmals im Einsatz gesehen haben. Der Dank bewegt die beiden Ehrenamtler. Manchmal sind wenige Worte von Herzen mehr wert als nur eine Geste flüchtiger Anerkennung.
Unternehmen und Privatpersonen spenden für Menschen in Not – das ist gut und gibt Beispiel.
Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Lebensmittel, mit denen die Straßenwächter kochen, zum Teil von der Kölner Tafel kommen. Interessant ist auch, dass an zwei Tagen in der Woche eine Restaurant-Küche für die Straßenwächter kocht.
Auch die Kunden der KVB unterstützen das Wirken der Straßenwächter. Auf dem Stadtteil- und Familienfest in Deutz war die KVB im Sommer präsent. Mit kurzweiligen Vergnügungen ging die Bitte um eine kleine Spende einher. Nicht weniger als 3.500 Euro kamen zusammen. Diese haben wir den Straßenwächtern übergeben.
Wir laufen weiter. Auf der Breite Straße treffen wir auf einen ehemaligen Soziologie-Studenten.Gerne nimmt er eine Schale warmen Essens in der Kälte. Genauso gerne kommt er mit uns ins Gespräch. Er klärt mich über Hintergründe der Sozialpolitik auf und über die praktischen Hürden, die Gemeinschaftsunterkünfte bereithalten. „Viele gehen da nicht gerne rein, weil sehr viel geklaut wird. Die Kriminalität ist einfach sehr groß“, sagt er. Und wer kann schon gut einschlafen, wenn das wenige Hab und Gut in Gefahr ist, den „Besitzer“ zu wechseln?
Ich kann das resignierend nachvollziehen.
Mir fällt auf, dass viele der Klienten die Chance auf ein Gespräch wittern, wenn die Straßenwächter um die Ecke kommen. Aber eigentlich liegt das ja auch nahe, denn ein Tag ohne Arbeit, ohne Familie und Aufgabe kann ganz schön lang werden. Tina drängt nach ein paar Minuten darauf weiterzugehen. „Bitte entschuldigt, aber wir müssen weiter!“ Als die Räder des Bollerwagens wieder rollen, verrät sie uns, dass es ihr immer sehr leid und auch weh tue, wenn sie Gespräche mit den Klienten unterbrechen müsse. Die Hohe Straße zeigt sich belebt wie immer. Trotz Regens laufen hier mehr Menschen als manchenorts zur „Rush Hour“. Am Rande eines hell beleuchteten Schaufensters sitzt auf einem kleinen Klappstuhl ein ebenso klein wirkender Mann. Zum Glück trägt er eine warme Jacke und ist in eine ordentliche Wolldecke gehüllt. Benjamin verrät mir, dass dieser Herr blind ist und deshalb eine besondere Ansprache benötigt. „Ich gehe immer behutsam auf ihn zu und sage ihm, dass wir mit Essen kommen. Das beschreibe ich dann, damit er sich entscheiden kann.“ Der Herr freut sich über das Nudelgericht und Benjamin darüber, wieder einen Bedürftigen satt zu bekommen.
Mich hat diese Szene sehr bewegt. Da ist zum Einen die Wärme, die dieser kurze Kontakt zwischen den beiden auslöste – und zum Anderen der harte Kontrast eines blinden Menschens, der in einer hell erleuchteten Einkaufsmeile neben Fast Food-Läden und Zucker-Tempeln sitzt.
Ein paar Schritte weiter bleibt der Bollerwagen erneut stehen. In einer Seitenstraße wird ein weiterer Klient vermutet, der sich eher im Dunkeln aufhalten mag. Armut ist häufig mit Scham verbunden. Benjamin sagt: „Ich kenn ja meine Pappenheimer. Bestimmt ist er da, wir dürfen ihn nicht vergessen.“ Marion füllt schnell eine Schale auf und Tina gibt noch eine Zimtschnecke mit. Nach ein paar Minuten kommt Benjamin mit erfolgreichen leeren Händen zurück. Auch dieser Klient wurde nicht vergessen.
Weiter auf die Schildergasse. Einer wühlt im Mülleimer und wird angesprochen: „Willst Du etwas essen?“ Dankend nimmt er an, ohne den Mülleimer aus den Augen zu lassen und noch während des Auffüllens der Schale nach der einen oder anderen Pfandflasche zu wühlen.
Essen und Getränke sind für Hilfsbedürftige häufig der Höhepunkt des Tages und vor allem lebenderhaltend.
Es geht weiter, am Kaufhof vorbei. Hier steht der große Weihnachtsbaum und strahlt Stimmung aus. Bald ist Weihnachten. Und was machen die Klienten dann? Weihnachten auf der Straße? Ja, Weihnachten auf der Straße. Harte Realität – eine andere Weihnachtsgeschichte! Traurig, aber wahr.
Angekommen am Neumarkt verschwinden diese Gedanken dennoch schnell. Hier herrscht Gewusel. Schnell ist der Bollerwagen umrundet. Essen werden ausgeteilt, einer fragt vehement nach Cola, die es nicht gibt, ein anderer nach Nachschlag, der möglich ist.
Der große Topf im Thermobehälter ist leer und wir verabschieden uns von Tina und Benjamin. Die drei mit dem Bollerwagen, Marion eingeschlossen, können entspannen und sicher sein, für heute einen guten Dienst geleistet zu haben. Für heute ein warmes Essen, Gebäck, Kaffee und Tee für etwa 150 Menschen, für heute ein wohliges Gefühl mit menschlicher Wärme und kurzen Gesprächen.
Am Neumarkt besteht besonders viel Bedarf. Doch am Ende wissen die drei Straßenwächter, dass sie einen wichtigen Beitrag an einem von 365 Tagen in 2023 geleistet haben – bei Schnee und Regen.
Bald ist Weihnachten und der Winter dauert noch länger – da ist dieser Gedanke wieder. Wie mag es den Menschen ohne Obdach dabei gehen? Dank der Straßenwächter haben sie eine Chance – mögen sie gesund bleiben und durchkommen.
Fotos von Stephan Anemüller
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